10. Oktober 2021 um 15 Uhr
Dr. August Ruhs im Gespräch
mit Dr. Elisabeth von Samsonow
DAS UNHEIMLICHE IN DER KUNST
Der österreichische Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Psychoanalytiker Dr. August Ruhs sprach gemeinsam mit der Künstlerin und Philosophin Dr. Elisabeth von Samsonow am Sonntag, den 10. Oktober 2021 um 15 Uhr im Krinzinger Lesehaus in Untermarkersdorf.
Um das Unheimliche zu diskutieren ist das Weinviertel mit seiner ausgedehnten Unterwelt der richtige Ort. Die weitläufigen Keller laden ein und schrecken ab, die langen Röhren unter der Erde signalisieren zugleich Geborgenheit und Horror. Ihre Aneinanderreihung erinnert an die Nekropolen des antiken Italien und Griechenlands. Die heute leeren und nutzlos gewordenen Riesenkörper, die weder Wohnung noch reine Natur sind, bilden Gegenstände für eine Meditation, deren Objekt ambivalent ist, genauso mit dem Leben wie mit dem Tod verbunden. Elisabeth von Samsonow nimmt sich das Thema des Unheimlichen vor dem Hintergrund dieser Weinviertler Besonderheit vor, wobei sie die Aufmerksamkeit auf die plastische Form unheimlicher Körper richtet. Eine Anregung dazu bildet neben Sigmund Freuds einschlägigem Text das legendäre Ausstellungsprojekt „The Uncanny“ von Mike Kelley in der Tate Liverpool aus dem Jahr 2004.
(Elisabeth von Samsonow, 2021)
Unheimliches erklären, Unheimliches schaffen
Der Begriff des Unheimlichen, der aufgrund seiner konträrlogischen Verdichtung nur bedingt in eine andere Sprache übersetzbar ist, umfasst Phänomene, die Freud 1919 in einem gleichnamigen Essay einer eingehenden Analyse unterzogen hat. Der Angst verwandt, dem Beunruhigenden und Bedrohlichen aber näherstehend, vereinigen sich im Unheimlichen mit seinem Gehalt an unbewussten Erfahrungen und deren Wiederkehr eine Reihe von Gegensätzlichkeiten, die das Vertraute und das Fremde, den Zweifel und die Gewissheit, das Lebendige und das Tote als verstörende Einheiten mit dem Erlebnischarakter von Ahnung, Vorzeichen und magischem Denken hervortreten lassen.
Mannigfaltigen und spontanen Alltagserfahrungen steht ein fiktives Unheimliches gegenüber, welches nicht nur einen umschriebenen Gegenstandsbereich literarischen und künstlerischen Schaffens darstellt, sondern vielmehr als Keim der Literatur und der Kunst immer schon innewohnt.
Gerade in einer Zeit, die unser gewohntes Denken und unsere bislang haltgebenden kategorialen Systeme unter Schaffung neuer Mentalitäten, Subjektivitäten, und Identtäten nachdrücklich in Frage stellt, bewegt sich auch die Kunst bevorzugt in Zwischenbereichen und stellt uns vor Erfahrungen, denen ein Unheimlichkeitscharakter nicht abzusprechen ist. In enger Verschränkung mit Wissenschaft und Technologie, sei es als Cyber-Art, sei es in der Herstellung von Doppelgängerapparaturen, Homunculi und künstlichen Intelligenzen, lädt sie uns zu transhumanen Grenzgängen ein, welche nicht ohne Beeinträchtigung unserer existenzsichernden Selbstgewissheit und unseres menschlichen Alleinstellungsmerkmals einhergehen. Beunruhigende, über archaische und utopische Phantasmen hinausreichende Wirklichkeiten, deren Faszination wir uns gleichwohl nicht ganz entziehen können.
(August Ruhs, 2021)
Dr. August Ruhs vor einem Werk von Jonathan Meese, 2020, ©.Mag. Matthias Bechtle / Galerie Krinzinger
Dr. August Ruhs, 1946 in Graz geboren, lehrt an der Universität Wien, an der Medizinischen Universität Wien, an der Wiener Psychoanalytischen Akademie und ist Vorsitzender des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse. Er studierte Medizin und Psychologie in Graz. Zeitgleich war er Stipendiat an der „Menninger Foundation/School of Psychiatry“ in den USA und an der „Clinique Universitaire Sainte-Anne“ in Paris. Nach dem Abschluss des Studiums machte er seine Facharztausbildung in Psychiatrie und Neurologie und absolvierte eine Ausbildung in Psychoanalyse und Psychodrama.
1989 war Dr. Ruhs Mitbegründer der Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule. Die drei Sektionen Ästhetik, Klinik und Logik beschäftigen sich mit der Strukturalen Psychoanalyse im Sinne von Jacques Lacan und ihrer Rezeption im deutschsprachigen Raum. Er war stellvertretender Vorstand der Wiener Univ.-Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie und Gründungsmitglied der AFP (Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse). Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift “texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik‘‘.
August Ruhs veröffentlichte zahlreiche Publikationen und Bücher aus den Bereichen der klinischen, theoretischen und angewandten Psychoanalyse. Viele Publikationen beschäftigen sich mit Kunst- und Filmanalysen sowie kulturtheoretischen Konzeptionen.
Dr. Elisabeth von Samsonow ©. Tamara Stajner
Dr. Elisabeth von Samsonow lebt und arbeitet in Wien und Hadres in Niederösterreich. Sie ist Künstlerin und Professorin an der Akademie der bildenden Künste in Wien, sowie Mitglied der GEDOK München. Neben internationalen Ausstellungs- und kuratorischen Tätigkeiten, lehrt und forscht sie zu den Schwerpunkten Philosophie und Geschichte in Beziehung zu einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses, zum Verhältnis zwischen Kunst, Psychologie und Politik in Geschichte und Gegenwart, zur Theorie und Geschichte des Frauenbildes beziehungsweise der weiblichen Identifikation (Mädchentheorie) und der sakralen Androgynie und des modernen „Ich-Zerfalls“. Ihre künstlerische Arbeit umfasst Skulptur, Performance, Malerei und Video. Sie beschäftigt sich u.a. mit dem systematischen und symbolischen Ort der weiblichen Plastik/ Skulptur im Kanon der Künste und einer ökologischen Ästhetik oder Geo-Logik der Körper. Dr. Elisabeth von Samsonow hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht.
Literaturempfehlungen:
August Ruhs, Freud. seine Psychoanalyse und die bildende Kunst, 2000, in: Parnass, 20. Jg., Heft 1: 58-59.
August Ruhs, Das Unbewusste ins Werk setzen. Der schöpferische Akt in Kunst und Neurose, 2004, in: Psychologische Medizin, 15. Jg., Nr. 2: 27-34.
August Ruhs, Lacan. Eine Einführung in die strukturale Psychoanalyse, Löcker Verlag, Wien 2010.
August Ruhs, Visual Art and its Subject, 2006, in: Sigmund Freud Foundation Vienna (Hrsg.): Katalog zur Ausstellung: Freud and Contemporary Art. Austrian Cultural Forum New York.
August Ruhs, Die Psychoanalyse im Museum. Gruppenanalytische Werkbetrachtungen, 2011, in: Hackenschmidt, S. / K. Engelhorn (Hrsg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge. Transcript-Verlag, Bielefeld: 273-287.
Elisabeth von Samsonow, Juergen Teller, THE PARENTS‘ BEDROOM SHOW (Creating Time), hg von der Niederösterreichischen Landesgalerie in Kooperation mit Zuecca Projects und The PhotoPhore, Venedig, Verlag für Moderne Kunst, Wien / Der Katalog erscheint zur gleichnamigen Ausstellung anläßlich der Biennale Arte di Venezia 2019 im Spazio Ridotto, Venedig / Texte von Christian Bauer, Nina Tabassomi, Domenico Fallacara, Felicitas Thun-Hohenstein, und ein Gespräch zwischen Elisabeth von Samsonow und Juergen Teller / Zeichnungen von Elisabeth von Samsonow zum Projekt
Elisabeth von Samsonow series, Munich 2018 © Juergen Teller all rights reserved (die komplette Serie) / Stills aus Elisabeth von Samsonows Film „The Parents‘ Bedroom Show“ (A 2019)
Elisabeth von Samsonow, hg. von ZEIT KUNST NIEDERÖSTERREICH, mit Texten von Felicitas Thun-Hohenstein, Alexandra Schantl, Suzana Milevska, Ebadur Rahman, Boyan Manchev, Lisa Stuckey, Carl Pruscha und Karl-Heinz Wagner, mit einem Werkverzeichnis der Skulpturen, KERBER VERLAG Bielefeld 2016, deutsch/englisch.
Elisabeth von Samsonow, GENERAL PRACTICE, Die Performances 2006-2014 , Schlebrügge Editor Wien 2015. mit Texten von Friederike Mayröcker, Suzana Milevska, Ebadur Rahman und Felicitas Thun-Hohenstein.
Elisabeth von Samsonow, ELEKTRA. Die Geburt des Mädchens aus dem Geiste der Plastik, Schlebrügge Editor Wien 2011. mit einem Text von Brigitte Borchardt-Birbaumer.
Elisabeth von Samsonow, Über die Schatten der Körper, die eingefalteterweise eine Kunst der körperlichen Form des Ordnens von Masse und Linie und deren schöne Verfertigung enthalten und nun zu einer äußeren Schrift räumlicher und körperlicher Ereignisse ausgefaltet worden sind.
Ein neues Opus, das dem Werk Giordano Brunos "Über die Schatten der Ideen" von 1582 folgt und es ergänzt. Galerie Jünger Baden bei Wien 2000. mit Texten von Benedikt Ledebur, Othmar Rychlik und Klaus Voswinckel.
Elisabeth von Samsonow, Lignum Vitae, Ausstellung Städtische Galerie Rosenheim, 1996.
Elisabeth von Samsonow, Vorstellungszauber, Ausstellung im Ganserhaus, Wasserburg/Inn 1987. mit einem Text von Peter Saam.
Anmeldung unter: krinzingerlesehaus@galerie-krinzinger.at